Meine Ängste stärken mich

Schon seit längerer Zeit möchte ich über das Thema Weinen bei Kindern schreiben. Nach dem ich gestern beim Vortrag von Dr. Thomas Harms war und ich in den letzten zwei Wochen zwei sehr spezielle „Weinerlebnisse“ mit Kindern hatte, ist es nun soweit.
Es ist oftmals ein sehr emotionales Ereignis, wenn die Tränen fließen, wenn  Schreie und Schluchzen unseren Ohren und unserem Inneren weh tun. Die Worte zu finden, die ausdrücken, was mir bei der Begleitung von weinenden Kindern wesentlich erscheint ist für mich eine Herausforderung. Ich möchte hier niemanden für sein Verhalten kritisieren sondern nur dazu einladen, über das Thema nach zu denken, das Weinen der Kinder neu zu erleben und anders damit um zu gehen.

In den vielen Jahren, die ich Kinder begleite und beobachte, habe ich das Weinen sehr oft als sehr lehrreich und natürlich auch als herausfordernd erlebt. Durch das Weinen zeigten und zeigen sich die Kinder mit einer sehr verletzlichen oder der verletzten Seite ihres Daseins.
Kinder weinen auf ganz unterschiedliche Art und Weise:
Manche versuchen krampfhaft, nicht zu weinen. Andere tun es dafür umso lauter. Die einen schämen sich dafür während sich einige überhaupt um gar nichts anderes kümmern, als ihren Schmerz auszudrücken.
Es gibt Kinder, die wollen umsorgt und gehalten werden und es gibt Kinder, die lehnen jede Berührung kategorisch ab, reagieren wütend auf Trost und Zuspruch. All diese Verhaltensweisen haben meiner Meinung nach auch einen Grund.

Denn sehr speziell ist auch wie das Umfeld auf das Weinen der Kinder reagiert. Jeder von uns kennt mehrere der unzähligen Strategien, die darauf abzielen, das Weinen schnellstmöglich abzustellen.
Ablenken, beschwichtigen, zurechtweisen und immer wieder ablenken.

Ich verstehe dieses Verhalten. Kinderweinen lässt uns nicht kalt. Es rührt auch bei uns etwas an. Wenn wir mutig genug sind, spüren wir unsere eigene Hilflosigkeit, Ängste und Not – ausgelöst durch das Weinen der Kinder. Vor allem wenn Kinder häufig wiederkehrende Schreiphasen haben, die durch traumatische Ereignisse in der frühen Kindheit ausgelöst werden, kommen wir selbst schnell in einen emotionalen Ausnahmezustand. Dabei Ruhe zu bewahren ist wohl die größte Herausforderung für Eltern solcher Kinder.

Weinen hat immer einen Grund. Auch wenn wir ihn nicht kennen oder nicht genau hinschauen wollen, weil es in uns eine Emotion auslöst, der wir uns nicht stellen wollen.

Wenn wir die Kinder und ihren Lebenslauf, oder ihre jetzige Lebenssituation genau anschauen, dann können wir, so glaube ich, ihr Weinen viel besser verstehen.
Die Kinder erzählen mit ihrem Weinen eine Geschichte. Manchmal ist es eine alte Geschichte aus ihrer frühen Zeit, manchmal ist es eine Geschichte die sich gerade erst zugetragen hat. Wenn sie zum Beispiel gestürzt sind oder sich mit jemandem gestritten haben. Und manchmal wollen sie mit ihrem Weinen natürlich einfach sagen, dass sie hungrig oder müde sind. Das machen sie auch über das Kleinkindalter hinaus – das Weinen ist der direkte körperliche Ausdruck ihrer Befindlichkeiten.
Jedes mal ist es ihnen wichtig, dass sie ihre Geschichte erzählen dürfen und ihnen dabei jemand zuhört ohne sie zu unterbrechen oder sie abzulenken. Jemand, der da ist und ihnen keine „tröstende Umarmung“ aufzwingt sondern auf die Signale achtet und nach fragt, ob sie Körperkontakt möchten.
Sie wollen ernst genommen werden, damit das was sie erlebt haben, den Schrecken verliert und sie sich wieder entspannen dürfen. Sie möchten verstanden werden in ihren Ängsten und Sorgen. Sie möchten in ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden. Klingt alles logisch, oder?

Und doch fällt es uns Eltern immer wieder schwer, dieses Weinen „auszuhalten“ und mit Gelassenheit zu begleiten.

Niemand von uns lebt in einer perfekten Familie,
einer perfekten Umgebung oder perfekten Gesellschaft.
Jesper Juul

Es ist unmöglich, unsere Kinder vor allen Schmerzen, vor allen negativen Erfahrungen zu schützen. Aber wir können da sein für sie und ihnen Raum geben, um aus schwierigen Erfahrungen gestärkt hervor zu gehen. Ich glaube, dass sie durch die achtsame Begleitung in diesen Situationen erfahren, dass Krisen zum Leben einfach dazu gehören und wir daran nicht zugrunde gehen müssen sondern daran wachsen können.
Und wir können uns selbst auch ein wenig besser kennen lernen, wenn wir unsere Ängste im Umgang mit dem Weinen und den heftigen Gefühlsausbrüchen der Kinder genauer anschauen:

Was löst das Weinen meines Kindes bei mir aus?
Was fühle ich in diesen Momenten in meinem Körper?
Wie ist meine Atmung?
Was würde ich jetzt gerne tun und warum?
Was brauche ich, um ganz bei mir zu sein und emphatisch dem Weinen zuhören zu können ohne es abstellen zu wollen?

Wenn ich meine und andere Kinder während ihres Gefühlsausbruchs, ihrem Weinen und Schluchzen begleite, ganz bei mir bin und für sie da sein kann, empfinde ich danach eine tiefe Verbundenheit, die unsere Beziehung stärkt.

Wie erlebt ihr das Weinen eurer Kinder? Wann habt ihr zuletzt geweint und wer hat euch dabei begleitet?
Was tut euch wohl, wenn ihr euren Ängsten und Sorgen Raum gebt?