Nestwärme

Dieses wunderschöne kleine Vogelnest fanden die Kinder und ich neulich am Boden liegend in der Nähe eines Baumes mit ausladenden Ästen. Völlig fasziniert waren die Beiden, mit welch feinen, kuscheligen Materialien dieses zarte Nest ausgepolstert wurde.  Mit wie viel Arbeit der Bau dieses Nestes wohl verbunden war? Und dann kommt ein kleiner Sturm und die ganze Arbeit ist um sonst. „Zum Glück waren noch keine Eier drinnen!“ meinten die Kinder.

Ich nahm es mit nach Hause und dabei kam mir ständig das Wort „Nestwärme“ in den Sinn. Das Vogelnestchen strahlt so viel Liebe und Geborgenheit aus!
Kinder brauchen auch Nestwärme. Wissen wir alle. Nur versteht jeder ein bisschen was anderes darunter. So wie es verschiedene Nester gibt, so gibt es auch verschiedenste Auffassungen davon, was es bedeutet, Kindern Nestwärme zu geben.
Verstehen wir unter Nestwärme die Kinder bedingungslos zu lieben? Was heißt das denn wirklich? Wie lange brauchen Kinder Nestwärme? Ein Jahr, vier, sieben oder zehn Jahre? Wie viele Menschen braucht das Kind um sich herum, damit dieses Gefühl der „Nestwärme“ garantiert ist?

Darüber mache ich mir zur Zeit viele Gedanken. Nicht nur, weil ich mich mit dem Buch von Michael Hüter „Kindheit 6.7“ beschäftige. Auch weil ich über all die Jahre bemerke, wie sich der Umgang, der Zugang zu Kindern verändert.

Alle unsere Irrtümer übertragen wir auf unsere Kinder,
in denen sie untilgbare Spuren hinterlassen.
Maria Montessori

Warum, so frage ich mich, warum fangen wir nicht endlich an, mit unseren Kindern achtsamer umzugehen? Und Kindheit wieder als etwas zu sehen, was es zu schützen gilt? Nicht im Sinne von Abschottung vom wirklichen Leben in dem wir sie von frühester Kindheit von professionellen Menschen betreuen lassen. Sondern um wirklich da zu sein und sie wirklich Anteil nehmen zu lassen an unserem Leben, am Leben der Gemeinschaft. Es geht nicht darum, alles um sie herum zu konstruieren – sie als Projekt in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen alles unmögliche zu ermöglichen, nur um sie bestmöglich für das „richtige“ Leben vorzubereiten.

Wenn wir schon im Mutterleib damit anfangen, mit Hilfe von Ultra-Schall-Untersuchungen zu kontrollieren, ob das Kind auch „ordentlich“ wächst, wenn bei sämtlichen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen der Entwicklungsstand erhoben wird, damit das Kind möglichst in der Norm liegt, steckt dahinter nicht einfach nur Angst? Zu wenig Vertrauen? Können wir ihnen dadurch Nestwärme vermitteln?

Sobald das Kind in eine institutionelle Betreuungseinrichtung kommt und Sprach-Screenings und Beobachtungsportfolio auf der Tagesordnung stehen, frage ich mich, ob sich die Kinder bedingungslos angenommen fühlen? Dürfen die Kinder wirklich so wachsen wie es ihnen entspricht?  Oder passiert das alles unter dem Deckmantel von „Wir wollen nur das Beste und wir als Erwachsene sorgen dafür, dass das Kind später alle Möglichkeiten hat“ ?

An der Schwelle zur Neuzeit wurde eine Kontinuum der Geschichte der Menschheit weitgehend abgebrochen: Kindheit, etwa bis zum siebten Lebensjahr, als etwas Selbstverständliches, Natürliches zu betrachten. Das Bewusstsein, dass Kinder einfach zuerst einmal nur zu unserer und ihrer eigenen Freude auf dieser Welt sind und lediglich unseres Schutzes und unserer Liebe (vorrangig die ihrer Eltern) bedürfen, ist weitgehend verloren gegangen, wie auch ein vertrauensvoller und intuitiver Umgang.“
Michael Hüter „Kindheit 6.7“

Ja, so sehe ich das auch. Wie viele Eltern machen sich, gerade in den mitteleuropäischen Ländern, ständig Sorgen um ihre Kinder. Sorgen darüber, wie sie die Betreuung ihrer Kleinstkinder oder Kinder organisieren können, Sorgen darüber, ob all diese unterschiedlichen, natürlichen Entwicklungsphasen ( die manchmal als Provokation empfunden werden) wirklich „normal“ sind?
Aber sich einfach nur mit und über die Kinder freuen, sie zu genießen, die Zeit mit ihnen als etwas wertvolles, lehrreiches anzusehen – das trauen sich wenige Familien für länger als ein Jahr. Zu schnell werden diejenigen, die ihren Kindern wirklich Nestwärme geben möchten als konservativ und als eine Gefahr für den Feminismus abgestempelt.

Nestwärme bedeutet für mich Geborgenheit geben – durch verlässliche, wenige Bezugspersonen.

Nestwärme bedeutet da zu sein, um die echten Lebensprozesse des Kindes wahrzunehmen und darauf zu reagieren – und das geht nur, wenn wir uns wirklich Zeit nehmen. Auch Zeit, um unseren eigenen Lebensprozessen nachzuspüren.

Nestwärme bedeutet gelassen zu sein, wenn es zuhause durch die Aktivitäten des Kindes nicht mehr ordentlich aufgeräumt ist oder es „schon wieder“ erkältet ist.

Nestwärme bedeutet keine Sekunde Zeit daran zu verschwenden, dem Kind das Schlafen „beizubringen“ sondern statt dessen Bedürfnisse ernst zu nehmen und für eine entspannte Umgebung zu sorgen.

Nestwärme bedeutet, zuzulassen, dass ein anderer Mensch mit anderen Ideen und Vorstellungen immer mehr Raum in unserem Leben einnimmt.

Nestwärme bedeutet immer wieder loszulassen, damit das Nest nicht zu eng wird. Die natürlichen Loslösungsprozesse annehmen und zulassen, dass das Kind mehr und mehr selbständig, eigenverantwortlich wird, denn irgendwann ist es flügge! Oder habt ihr neulich einen achtzehnjährigen Menschen mit Schnuller und Windel über die Straße spazieren gesehen?

Ich wünsche euch allen, dass ihr diese Nestwärme mit euren Kindern genießt und lebt. Dass ihr, wenn das Nest scheinbar plötzlich zu eng wird oder ein Sturm Gefahr bringt, gut auf eure und die Bedürfnisse der Kinder achtet. Vielleicht ist es manchmal gut Unterstützung von Jemandem zu bekommen, der euch hilft, die individuellen Lebensprozesse von euch und eurem Kind(ern) wieder besser zu verstehen. Denn das Wichtigste ist, im Vertrauen zu sein –  dann strahlt euer Nest Liebe und Geborgenheit aus, genauso wie das kleine Vogelnestchen.