Plädoyer für die Kindheit

Nein – ich möchte Kindheit nicht glorifizieren. Nein, es ist nicht so, dass ich hier alle Erwachsenen, die mit Kindern zu tun haben, in einen Topf werfen möchte.
Aber ich möchte aussprechen, was in mir lebendig ist, was in mir kocht. Was mich beschäftigt.

Wir wissen so viel über die kindliche Entwicklung. Über das, was bereits in der Schwangerschaft prägend ist. Was bei einer Geburt so alles ablaufen kann. Wie die Kinder lernen, vor allem wie ihr Gehirn dabei arbeitet und aufnahmefähig ist. Wir wissen was Kinder brauchen, um optimal heranwachsen zu können und was die lieben Erwachsenen dabei alles für sie tun können sollten dürfen müssen….

Und das ist das Problem! Wir wissen zu viel. Zu viele Ratgeber, Vorträge, Bücher… die uns sagen, was alles gut und wichtig ist. Aber vor lauter Wissen, vergessen wir wahrzunehmen wie das Kind, das gerade vor uns steht, ist. Wer es ist und was es braucht.

Zu viel Information verhindert Wahrnehmung
Mauricio Wild

Und das macht mich so traurig. Vor lauter „machen wollen“ ist zu wenig Platz fürs „Geschehen lassen“.

Da ist zu wenig Raum für die Individualität jedes einzelnen Kindes. Da ist vor allem zu wenig Raum für das individuelle Zeitmaß der Kinder.

Mir wird immer wieder bewusst, dass all die Methoden und Programme, die sich die Experten ausdenken und die wir Erwachsene dann umzusetzen versuchen, daran scheitern, dass sie dem einzelnen Kind nicht gerecht werden.

Warum mir das gerade momentan so zuwider ist?

Weil ich bei Hospitationen in den sogenannten „Bildungseinrichtungen“ erlebe, wie die Förderprogramme der Experten umgesetzt werden.

Weil es mich ärgert, wenn Kampagnen wie „Kein Kind zurücklassen“ mit großem Aufwand und öffentlicher Aufmerksamkeit „gemacht“ werden und ich Pädagoginnen höre, die lapidar sagen: „Naja, es weinen ja nicht alle Kinder – es sind ja nur einzelne, die damit nicht klar kommen, dass sie plötzlich von Morgens bis Abends im Kindergarten sind.“

Jedes einzelne dieser weinenden Kindern wird also einfach in Kauf genommen – es fällt in der großen Gruppe ja nicht so ins Gewicht, oder?! Es dient ja irgendeinem höheren Zweck, und es wird sich schon noch daran gewöhnen, oder? Aber wie wird es dabei begleitet? Wird gemeinsam mit den Eltern überlegt, wie die Eingewöhnung entspannt ablaufen kann? Nein! In diesem Fall leider nicht.
Denn dafür fehlt den Pädagoginnen die Zeit. Es gibt ja so viele Programme, Screenings und Bildungsangebote, die angewendet werden sollten und so viele Kinder, die betreut werden müssen.
Wem dienen diese Kampagnen? Hier wird ein Kind übersehen in seiner Not! Hier wird ein Kind allein gelassen, zurückgelassen!

Wo ist die Begegnung mit echtem Interesse, Empathie und der Bereitschaft, in Beziehung zu treten mit jedem einzelnen Kind?

Natürlich gibt es auch Einrichtungen, in denen die Bedürfnisse der Kinder im Mittelpunkt stehen, in denen die Familie miteinbezogen wird. In denen die Umgebung so reichhaltig und ansprechend gestaltet ist, dass die Kinder durch ihr „selbst tätig sein“ sich all das erarbeiten, was in anderen Einrichtungen als Programm vorgesetzt wird.


Natürlich gibt es viele Pädagoginnen, die wirklich in Beziehung treten mit den Kindern und hier spüre ich bei den Hospitationen die Atmosphäre des Miteinanders. Hier erlebe ich, dass das Vertrauen in die Kinder groß geschrieben wird. Und die Kinder wirklich Kind sein dürfen.

„Jeder Mensch ist einzigartig.
Seine Individualität zu leben macht den Sinn des Lebens aus.“

Mir geht es auch nicht darum, dass wir den Kindern alles auf einem silbernen Tablett darbieten. Nein – ganz und gar nicht!

Auch dies wäre ein „machen wollen“ !

Es ärgert mich, dass manche meinen, sie müssten ihren Kindern Widerstandsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit „beibringen“ oder auch soziales Verhalten wie „warten können“ oder „verzichten“.

Wenn wir Kindern nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen würden, wenn wir sie erleben lassen würden – hier haben wir dieses „geschehen lassen“ – wie es beispielsweise ist, einen Baum selbständig zu erklimmen oder sich das Schaukeln zu erarbeiten. Dann gäbe es für sie jeden Tag genügend Erfahrungen für die wesentlichen Dinge des Lebens. Dann würde auch das Gerede von „Kinder brauchen Grenzen“ etwas zurückgedrängt werden. Denn Leben heißt begrenzt sein. Kinder erleben Grenzen schon im Mutterleib. Sie wachsen ständig aus Grenzen heraus und wachsen in neue Grenzen hinein.

“ Die unermüdliche Überwindung von Widerständen, verleiht dem Kind jene Spannkraft, die wir ihm zu erhalten wünschen.“
Elfriede Hengstenberg

Nehmen wir das Beispiel mit dem Erklimmen eines Baumes. Kinder machen vielerlei Erfahrungen dabei. Sie weiten ihre Frustrationstoleranz aus, üben sich in ihrer Körperbeherrschung, erleben die Grenzen ihres Tuns, müssen warten können, Geduld haben,

  • weil sie noch nicht groß genug sind, um bis zum ersten Ast zu gelangen
  • weil sie noch nicht die Kraft haben, um sich auf den Ast hinauf zu ziehen
  • weil sie, wenn sie oben sind, plötzlich nicht mehr so genau wissen, wie sie hinunter kommen
  • weil ihre Geschicklichkeit gefordert ist und ihr Mut und ihre Aufmerksamkeit und Konzentration…

Die Erwachsenen braucht es hier, um einfach präsent zu sein – ohne zu helfen.
Ohne vorgreifen zu wollen, zu unterstützen mit „schau, wenn du dich da festhältst, dann kannst du dort den Fuß hinauf stellen und dann…“
Keine Hilfsmittel wie Leiter oder Hocker bereit zu stellen. Nein – einfach warten, bis es geht, ohne sie zu bemitleiden, wenn sie ärgerlich weinend unter dem Baum stehen, weil es ihnen einfach nicht gelingt, auf den Baum zu kommen. Ohne sie mit langen Erklärungen zu belehren, dass sie halt noch ein wenig wachsen müssen und es eh noch zu gefährlich ist und sie eben noch zu klein sind usw.
Echte Anteilnahme genügt: „Du würdest gerne auf den Baum klettern, hm? Bist du traurig, weil du es nicht schaffst? Ja, das kann ich verstehen.“
Und dann, wenn es dem Kind gelingt, auf den Baum zu kommen, alleine, ohne Hilfe, mit eigener Kraft, mit der eigenen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, dann ist es das Kind, das von innen her strahlt mit einer ansteckenden Freude! Mit der Freude über einen wunderbaren eigenen Erfolg, der es unendlich bestärkt in seinem ganzen Sein!

So etwas kann nicht gemacht werden.

Und genau so verhält es sich mit den meisten wichtigen Entwicklungsschritten der Kinder. Aber das alles braucht eben Zeit. Wirklich Zeit. Kindheit braucht Zeit. Aber wer hat noch Zeit?

Haben wir keine Zeit, um zu warten, bis die Kinder sich selbst das Sitzen, das Gehen Klettern usw. selbst erarbeiten?

 

Haben wir zu wenig Vertrauen, dass sie auch ohne unsere „Förderprogramme“ in ihrem Zeitmaß sprechen lernen?

Wo sind die Freiräume, die den Kindern ermöglichen eigene Erfahrungen zu sammeln?

Ich möchte euch ermutigen:

Lasst euch immer wieder ein auf dieses nicht wissen (können oder müssen) sondern geschehen lassen, dem Leben vertrauen und den Mut für die echte Begegnung mit  Kindern und ihren Lebensprozessen. Um so der Kindheit den Raum zu geben, den es braucht um heranwachsen zu können und irgendwann wirklich erwachsen zu werden. Mit einem gut entwickelten Gefühl für Selbstwert und Verantwortung.

Und traut euch, dafür einzustehen, dass diese Grundhaltung den Kindern gegenüber auch in den Bildungseinrichtungen umgesetzt und vor allem gelebt wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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