Sandkastenzeit – oder Kindheit auskosten

Was würde unser Sandkasten erzählen, wenn er sprechen könnte? Wie viele unzählige Stunden, ja Tage hat vor allem unser Herr Sohn in diesem mit Holzbalken begrenzten Viereck verbracht? Und wie viel von diesem Sand ist durch das Spielen (leider) auch überall in unserer Wohnung verteilt worden?!?!
Als unser Sohn ein Jahr alt war, haben wir im Garten ein Loch von gut einen halben Meter ausgehoben, ein Vlies eingelegt, Holzbalken zusammen geschraubt und das Ganze mit ausreichend Sand gefüllt. Nun  – elf Jahre später –  ist der Sandkasten immer noch in Gebrauch.

Egal bei welchem Wetter, unser Herr Sohn gräbt und gräbt. Er baut Burgen, verlegt Rohre, füllt unzählige Gießkannen mit Wasser in den Sand, arbeitet mit Baggern, Walzen und Lastwagen und findet scheinbar immer wieder neue Ideen für Bauprojekte, die er umsetzen möchte.

„Was? Euer Sohn ist in seinem Alter immer noch im Sandkasten am Spielen?“
Ja, er ist zwölf Jahre und kann so lange im Sandkasten spielen, wie es ihm entspricht. Sein vertieftes Spiel ist für uns immer wieder faszinierend. Wir sehen, wie wohl er sich bei seinen Beschäftigungen fühlt.
Wie unnötig wäre es, wenn wir ihm sagen, dass er nun schon alt genug ist, um ohne Sandkasten auszukommen.

Ist es so erstrebenswert, die Kindheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen? Wird in unserer Gesellschaft der Kindheit genug Raum gegeben? Oder drängen wir all zu früh die Kinder dazu, sich „Welt gewandt“, vernünftig, erwachsen zu geben? Konfrontieren wir sie mit unter zu früh mit all den Sachen, die es im Außen gibt, um sie „auf das Leben vorzubereiten“?

Gönnen wir ihnen wirklich die Unbeschwertheit der Kindheit, die Zeit sich verwurzeln zu können und in die Welt hinein zu finden, damit sie dann, wenn sie innerlich wirklich reif dafür sind, den Schritt machen können, der sie zu Jugendlichen und dann zu Erwachsenen werden lässt? Zu Erwachsenen, die sich auch erwachsen verhalten, die mit beiden Beinen im Leben stehen und für sich und andere Verantwortung übernehmen können und nicht in irgendwelchen infantilen Verhaltensweisen stecken bleiben.

„Früh gereift – früh verfault“ lautet ein Sprichwort.

Bestimmt ist der Sandkasten irgendwann uninteressant. Wir haben mit unserem Herrn Sohn vereinbart, dass er es uns wissen lässt, wenn wir den Sandkasten abbauen dürfen.
Dann – das steht fest – gibt es ein Fest. Ein großes Fest. Denn das Ende der Sandkastenzeit markiert bestimmt den Übergang in die nächste, wichtige Entwicklungsetappe. Und auch dieser Etappe möchten wir den Raum geben, den es braucht – ein Auskosten – mit allen Höhen und Tiefen, die jede Entwicklungsetappe eben mit sich bringt. Denn, wie schade ist es, das Leben nur halb zu leben, durch zu rauschen und jeweils schon mit einem Fuß aus der Tür zu sein, ohne den Raum in Ruhe zu durchwandern, zu durchschreiten, zu vermessen und sich darin neu zu finden.

Auch uns Erwachsenen tut es manchmal gut, uns zu fragen,  in welcher Entwicklungsetappe wir gerade stecken und ob wir ihr den Raum geben, den es braucht, damit unser Potential sich voll entfalten kann. Ohne ständige Manipulation von Außen – ohne ständiges „du solltest“, „die Zeiten sind halt so“ und andere Floskeln, die uns in unserem Sein einschränken.
Ein Auskosten und auch manchmal ein Aushalten, um ganz im Hier und Jetzt zu sein und nicht zu schnell durch zu stolpern, zu fliehen und uns mit Ersatzhandlungen durch zu schwindeln.
Kinder können das noch sehr gut, dieses auskosten – sie können auch das aushalten. Wenn wir sie dabei achtsam und respektvoll begleiten.

Für das Auskosten der Kindheit braucht es meiner Meinung nach keine virtuelle Welt (von der viele überzeugt sind, dass sie so wichtig ist und wir die Kinder früh heran führen müssen). Nein – für das Auskosten braucht es die echte Welt zum Angreifen, zum Fühlen, zum Begreifen und Verstehen.
Wie der Sand, der durch die Finger rieselt….diese Erfahrung kann kein Computer bewerkstelligen.

Und was ist eine Kindheit ohne Sand?

Buchtipp: “ Mehr Matsch“ von Andreas Weber Verlag ullstein