Zwischenraum

Wenn ein Kind zu uns ins Leben kommt sind wir in den ersten Wochen ganz damit beschäftigt, auf die Signale des kleinen Wesens einzugehen. Bei jedem Geräusch, bei jedem Ansatz von Weinen, bei jeder Bewegung, die dieses kleine Bündel macht, stehen wir da, um zu schauen, was es braucht. Hat es Hunger? Hat es eine volle Windel? Möchte es schlafen? Braucht es Nähe?

Mit der Zeit lernen wir die Signale des Kindes besser und besser zu entschlüsseln, zu verstehen – ja, zu lesen. Wir wissen, ob das Weinen bedeutet, dass es Zeit fürs Schlafen ist oder ob die Windel voll ist. Wir wissen, wie das Weinen klingt, wenn wir noch ein wenig damit warten können, das Kind hoch zu nehmen. Wir finden heraus, was dem Kind hilft, damit es sich auch wieder  selbst beruhigt – zum Beispiel, in dem wir  mit ihm reden oder etwas summen. Und wir wissen, wie das Weinen klingt, wenn es wirklich wichtig ist, alles stehen und liegen zu lassen, um das Kind zu uns zu nehmen.

In diese erste Zeit des Kennenlernens zu investieren lohnt sich.  Es ermöglicht uns, angemessen zu reagieren, wir bekommen Sicherheit im Umgang mit unserem Kind und werden beschenkt mit mehr Handlungsspielraum.

Für das Kind ist es ebenso wichtig, dass wir nicht mehr bei jedem Quäken reagieren, sondern ihm ermöglichen, den Raum zwischen Reiz und Reaktion kennen zu lernen.  Ganz langsam aber doch immer wieder und immer mehr. So lernt es sich selbst zu regulieren und durch unsere Unterstützung mit kleinen Frustrationen umzugehen. Spätestens wenn das Kind dann seinen eigenen Willen entdeckt, dieses und jenes möchte, anderes auf keinen Fall und wiederum anderes jetzt auf der Stelle, ist es gut, dass wir verstehen, wie wichtig der Zwischenraum zwischen Reiz und Reaktion ist. Aus Liebe zu unseren Kindern oder aus einem tiefen Bedürfnis nach Harmonie tappen wir manchmal in die Falle, unseren Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen zu wollen. Wir meinen vielleicht, dass es gut ist, ihnen alles zu ermöglichen, denn schließlich äußern sie ja ihr Bedürfnisse dahingehend! Leider kann das zur Folge haben, dass unser Kind immer unzufriedener wird und wir ständig auf der Hut sind, ja schon ein bisschen Angst davor haben, dass der nächste Wutausbruch kommt, wenn wir einmal Nein sagen wollen/müssen.  Da die Gehirnentwicklung etwas dauert und wir beispielsweise von einem Dreijährigen nicht erwarten können, dass  viel Einsicht besteht, wenn wir dagegen sind, dass das Kind eine zweite Packung Gummibärchen aufessen möchte, ist es umso wichtiger, dass  dieser Zwischenraum in uns schon gut angelegt ist und wir um dessen Bedeutung wissen. So können wir das Kind dabei begleiten, mit dem Frust umzugehen, der entsteht, wenn wir Nein sagen.

Leider machen manche Erwachsene hierbei den Fehler, den Kindern alles erklären zu wollen, damit die Kleinen das Nein der Erwachsenen verstehen oder sogar einsehen, warum  ein nein ausgesprochen wurde. Ich denke, es ist besser, mit Erklärungen sparsam umzugehen (an die Vernunft zu appellieren hilft leider nicht) und eher dafür zu sorgen, dass das Kind mit seinem Bedürfnis gesehen und seine Reaktion darauf nicht verurteilt wird.

„Ja, ich verstehe, dass du gerne noch mehr Gummibärchen haben möchtest, die schmecken dir so gut! Für heute ist es meiner Meinung nach aber genug….Ich sehe, dass dich das sehr wütend macht. Ja, das ist ärgerlich. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.“

Der Zwischenraum ermöglicht uns, nachzudenken, nachzuspüren, ob der aufkommende Impuls einer sofortigen Reaktion bedarf, wie hoch das Potential einer Wiederholung ist, was für langfristige Konsequenzen sich daraus ergeben könnten, wie sich dieses Verhalten auf unser Umfeld auswirkt usw. Es geht also darum, den Raum für moralisch-ethische, lebensdienliche Überlegungen zwischen den Reiz und die Reaktion zu stellen. In unserer konsumorientierten Welt, in der wir per Mausklick alles jederzeit erwerben können, umgehen wir leider zu oft diesen Zwischenraum. Prof. Dr. Joachim Bauer beschreibt in seinem Vortrag (der online leicht zu finden ist)  „Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens“ so gut, wie wichtig es ist, dass wir diesen Raum zwischen Reiz und Reaktion nützen, um verantwortungsvoller mit uns selbst und mit allem uns begegnendem im Leben umzugehen.

Ja, es ist nicht immer einfach, als Eltern klar Stellung zu beziehen, auszuhalten, wenn die momentanen Wünsche und Bedürfnisse der Kinder mit unseren Werten unseren Vorstellungen und unserer Lebenserfahrung kollidieren.  Dann inne zu halten, um abzuwägen, was jetzt wirklich wichtig ist und ob mitunter ganz andere Bedürfnisse hinter dem spontanen Wunsch stehen, ist manchmal sehr herausfordernd. Und doch lohnt es sich – langfristig gesehen.
Vielleicht helfen hin und wieder auch Zitate von Jesper Juul:

 

Kinder wissen sehr genau, wozu sie Lust haben, aber wenig davon, was ihnen gut tut.
Es muss also für beide Seiten katastrophal enden,
wenn die Führungsrolle in der Familie
den Kindern überlassen wird.
Jesper Juul

 

Wenn nur das, worauf Kinder Lust haben, zur Richtschnur der Eltern wird,
werden die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes nicht befriedigt.
Jesper Juul

Kinder bekommen ihre Wünsche heute oft allzu rasch erfüllt.
Damit berauben wir sie der Möglichkeit, sich freuen zu können.
Jesper Juul

Welches der drei Zitate gefällt euch?
Wie geht es euch mit diesem „Zwischenraum“ zwischen Reiz und Reaktion? Lässt ihr ihn gerne zu?  Wie begleitet ihr eure Kinder in ihrer Entwicklung dieses Zwischenraums? Was dabei fällt euch schwer?