Von einfüßigen Ungeheuern und anderen Wesen

Zur Zeit verbringe ich viele Stunden damit, im Garten Schnecken einzusammeln. Diese kleinen, alles vertilgenden Ungeheuer sind in diesem Jahr wirklich eine Zumutung für unsere Pflanzen! Ich sammle sie in einem großen Kübel, trage sie über die Straße um sie im Wald wieder frei zu lassen. Und – ehrlich – diese Viecher sind mir unheimlich! Wahrscheinlich, so denke ich mir, wenn ich jeden Tag aufs Neue unzählige Schnecken einsammle, ja – sehr wahrscheinlich lachen sie mich aus! Diejenigen, die ich im Wald aus dem Kübel kippe lachen und erzählen ihren Verwandten von meiner Unwissenheit, erzählen von den paradiesischen Zuständen mit dem reichhaltigen Nahrungsangebot in unserem Garten und überreden ganze Sippschaften über die Straße zu kriechen und des Nachts über unsere Pflanzen herzufallen!  Die fünf Igel, die in unserem Garten sind, scheinen ein Bündnis mit den Schnecken geschlossen zu haben. Die Igel dezimieren jedenfalls keine Schnecken – sie verzieren nur unsere Terrasse mit ihren schwarzen, kleinen Würstchen!!

Wenn ich früh morgens oder spät Abends auf meiner Mission durch den Garten streife, alle Schneckenverstecke entdecke und doch etwas machtlos bin, komme ich ins philosophieren…sie sind so langsam und leise, diese hungrigen Tiere. Sie sind klein, überwinden aber dennoch sämtliche Hindernisse, um an die Pflanzen zu kommen, die ihnen am Besten schmecken. Sie kennen keine Grenzen und lassen sich schwer von ihrem Ziel abbringen! Ähnlich wie diese zweifüßigen, stetig wachsenden Menschenwesen, die hier mit mir und meinem Mann leben. Die genau wissen, was sie wollen, gerne Hindernisse überwinden, mich täglich neu heraus fordern und sich nicht von ihrem Ziel „einfach ihr Leben leben“ abbringen lassen (zum Glück)! Diese Wesen, vor denen ich manchmal stehe und nicht weiß, was ich sagen oder tun soll ! Die mit ihrer wachsenden, sich festigenden Persönlichkeit mich, meine Werte und mein Bild von der Welt immer wieder auf den Kopf stellen, mich daran erinnern, flexibel, lebendig und wach zu sein.  Diese Wesen, die – so wie die Schnecken – ihrem inneren Plan folgen, der mich in den Spiegel schauen lässt, um mich zu fragen, wohin mich denn mein eigener Plan führt…Diese Wesen, die eine Ausdauer haben, die mich manchmal schon vormittags müde macht und mich dennoch dazu bringt, wieder auf zu stehen. Diese Wesen, die mir meine Fehler und meine Unwissenheit verzeihen und mit ihrer großzügigen Liebe bereit sind, jeden Tag erneut mit beiden Beinen da zu stehen und zu fragen: „Bist du bereit für dieses eine verrückte Leben?“

Nein – meine Kinder sind keine Ungeheuer – aber es ist mir manchmal etwas ungeheuer zumute, wenn ich mir  eingestehen muss, dass ich nichts weiß. Ich weiß nicht ob die Art und Weise, wie ich diese beiden Menschenwesen begleite für sie „richtig“ ist. Es ist mir ungeheuer, oft nicht zu wissen, was ihrem Wesen nun entsprechen würde.

Es ist ein Versuch. Ein Versuch mit so viel Liebe, Respekt und Achtsamkeit, wie ich es vermag zu geben, sie zu begleiten. Ein Versuch, ihre Bedürfnisse aber auch meine zu sehen und Lösungen zu finden für alle möglichen Gegebenheiten des Zusammenlebens.

Es ist ein Versuch – genauso wie ich täglich versuche, unsere Pflanzen vor den unzähligen gefräßigen, immer wieder kehrenden Schnecken zu bewahren.
Ob es gelingt?
Ich hoffe es!