Ankommen

„Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst.“

So lautet der Titel eines Buches von Haemin Sunim. Das ist eine einfache Tatsache. Leider vergessen wir das all zu oft im Alltag, oder?
Die Corona-Zeit ist dahingehend ja wahrlich eine Einladung zur Entschleunigung. Wenn sämtliche Termine plötzlich wegfallen und der Tag endlos vor uns liegt, dann erscheinen die kleinen Dinge plötzlich wieder groß. Es geht dabei nicht nur darum, selbst langsamer zu werden, um die Dinge bewusst zu tun, zu erleben. Sondern auch um den Schritt davor, wie den eigenen Gedanken Raum zu geben. Heute bin ich zum Beispiel über das Wort „ankommen“ gestolpert. Was bedeutet das eigentlich „ankommen“ ?

Um kleine Dinge wahrzunehmen, ist es ja durchaus auch wichtig, zuerst einmal im Hier und Jetzt mit unserer Aufmerksamkeit, mit unserem Sein anzukommen. Natürlich ist das alles ganz logisch und wir verstehen das alle ohne lange Erklärungen. Aber – wie bewusst ist uns das, wenn wir zum Beispiel abends ins Bett liegen? Habt ihr da schon mal nachgespürt ob euer Körper wirklich auf der Matratze zum liegen kommt? Oder gibt es da noch irgendwo im Körper eine Anspannung –  in den Schulterblättern, an der Wirbelsäule, dem Hinterkopf oder an den Beinen – die verhindert, dass wir wirklich auf der Unterlage zum liegen kommen? „Ankommen“, um zu regenerieren, loszulassen und uns aus zu ruhen? Ich merke das bei mir manchmal: ich liege zwar im Bett, aber alles ist noch irgendwie angespannt und mich hindern unendlich viele Gedanken daran, mich einzulassen auf die Matratze unter meinem Rücken.  Aber, wenn ich wirklich ankomme, mich wohlig ausstrecke, loslasse, ja, dann ist das vielleicht etwas alltägliches aber doch auch sehr schönes!

Eine andere Situation, in der mir dieses „ankommen“ in den Sinn kommt, ist das Essen. Ich setze mich zum Tisch und was mache ich wohl als Erstes? Ich greife nach dem Schöpflöffel, fange an, das Essen auf die Teller der Kinder zu verteilen, dann auf meinen. Gabel in die Hand und erster Bissen in den Mund, zwischendurch unterhalte ich mich natürlich mit den Kindern, dann kommt schon der zweite Bissen und der dritte folgt kurz darauf…schließlich bin ich ja hungrig! Aber schon beim Schreiben merke ich, dass das sehr stressig klingt und wenig mit Genuss zu tun hat. Also – Tempo raus, hinsetzen, schöpfen und dann erst mal ausatmen und wirklich ankommen.

Aber – der eigentliche Grund, warum ich mir darüber Gedanken gemacht habe, sind die Kinder! Denn, im Umgang mit, in der Begleitung von Kindern brauchen wir es am Allermeisten, das Ankommen.

Vor allem bei den ganz kleinen Kindern.Sie sind ja erst dabei, in dieser Welt anzukommen. Und das braucht Zeit. Es braucht Zeit, sich an die Schwerkraft zu gewöhnen, es braucht Zeit, die Gerüche, die Geräusche und visuellen Eindrücke zu verarbeiten, um langsam vertraut zu werden mit den Gegebenheiten, in denen sie sich befinden. Es braucht Zeit, den eigenen Körper und all seine Möglichkeiten kennen zu lernen, auszuprobieren, Muskeln zu stärken, sich aufzurichten…! Es braucht Zeit, um die Bindung zu Eltern, Geschwistern aufzubauen. Zeit, um zu verstehen, wie die körperlichen und emotionalen Befindlichkeiten eingestimmt, abgestimmt werden können – im Bezug auf sich selbst und die Bezugspersonen. So viele neue Situationen die es gilt einzuordnen, zu verarbeiten und in jeder Situation braucht das Kind auch die Möglichkeit anzukommen. Oder wie würde es euch gehen, wenn ihr in ein Restaurant kommt und gleich vom Kellner bestürmt werdet mit den Tagesspezialitäten und ihr Geschichten aus der Küche oder über anwesende Gästen erfährt noch bevor ihr euch zu einem Tisch setzen konntet? Das klingt nicht nach einem entspannten Restaurantbesuch, oder?

Und wie schnell passiert hier in unserer schnellen Zeit eine solche Überforderung mit Kindern? Anspannung ist da eine logische Folge. Diese Anspannungen häufen sich langsam zusammen…da ist der Kinderarzt-Termin, der Besuch bei Freunden, noch schnell einkaufen und am Wochenende wandern, ein steter Wechsel zwischen Autofahrten, Tragetuch, Fahrrad-Kiki, Kinderwagen,…und wir Erwachsene wundern uns, wenn die Kinder weinerlich und quengelig sind oder ständig unsere Aufmerksamkeit brauchen. So wird das Zusammensein mit den Kindern mehr und mehr zur Herausforderung, zur Überforderung auf allen Seiten und von „schönen Dingen“ ist nichts in Sicht.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist bei Kindern noch begrenzt und kann sich nur dann entwickeln, wenn sie zwischen den Zeiten mit vielen Eindrücken und Phasen selbständiger Auseinandersetzung mit sich und der Welt, ausreichend Ruhezeiten und Erholung von Reizen und Anforderungen bekommen.
Diese Ruhezeiten, um zu verarbeiten, um „anzukommen“ brauchen wir aber eigentlich unser ganzes Leben lang. Sind wir bei uns angekommen, spüren wir unsere authentischen Bedürfnisse, so können wir gelassener und angemessener mit den Anforderungen des Lebens umgehen. Wir können Entscheidungen treffen, die für uns stimmig sind, weil sie uns entsprechen.  Wir hören dann auf, ungehalten auf die Streitigkeiten der Kinder zu reagieren sondern erkennen die wichtigen Lernprozesse, bleiben ganz bei uns und begleiten ihre Streitigkeiten gelassen und ohne uns zu viel emotional einzulassen. Wir können ruhig zuhören anstatt uns gereizt zu geben, weil wir eigentlich ganz woanders sind mit unseren Gedanken. Das Zusammensein mit Kindern wird entspannter, wenn wir – Erwachsene wie Kinder – Zeit haben, um anzukommen.

Dann ist es auch wesentlich leichter dass wir die schönen Dinge des Lebens wieder sehen. Sie sind nicht alltäglich, obwohl sie uns jeden Tag begegnen. Sie machen unser Leben reich, lassen uns reifen und uns bewusst und vor allem verantwortungsvoll handeln. Wir können das Ankommen nicht als alltägliche Erscheinung herab tun sondern erkennen den Zauber. Vielleicht bräuchten wir dann auch keine Pandemie, die uns dies erst wieder bewusst machen muss.