Erkenne dich selbst

Dieses Bild aus dem ehemaligen Waisenhaus in Budapest, welches von Emmi Pikler geleitet wurde, ist für mich eines der wichtigsten Fotos überhaupt.
Das Kind entdeckt seine Hand. Es erkennt, dass diese zu seinem Körper gehört und mit viel ausprobieren, üben und nochmal ausprobieren lässt sich die Hand willentlich führen. Was für ein Wunder! Wie wichtig und bedeutungsvoll ist diese Entdeckung! „Das bin ich! Das gehört zu mir! Ich kann es bewegen….und – oh! Es gibt zwei davon…zwei Hände! Die lassen sich zusammen führen. Oder ich kann sie in den Mund nehmen, mich spüren, mich kennenlernen….“

Für diese Entdeckung, für diese Selbst-Erfahrung braucht das Kind Zeit und Ruhe.
Weder Mobile noch Spielbögen helfen ihm dabei sich selbst kennen zu lernen. Im Gegenteil. Diese vielfach angepriesenen „Motivationslocker“ lenken das Kind nur unnötig vom wichtigen Prozess der Körpererfahrung ab. Sie führen die Aufmerksamkeit des Kindes weg von sich selbst. Ein Hinwenden zu äußeren Reizen wird so schon früh „eingeübt“.

Das ist sehr schade. Denn kleine Kinder haben keine Filter, die sie vor zu vielen Reizen schützen. Sie sind diesem Zuviel an Sinnesreizen hilflos ausgesetzt. Sie werden zappelig, aufgeregt und wir Erwachsenen interpretieren dies mit Interesse, Motivation, Lernerfahrung.
Die Kinder, die früh vielen Reizen ausgesetzt sind, brauchen dann scheinbar immer mehr Reize: „Mein Kind braucht Action, sonst ist ihm langweilig.“
Ist es wirklich Langeweile, die ein kleines Kind empfindet? Wie äußert sich diese Langeweile? Ist es quengelig, zappelig, unruhig? Weint es und wir als Eltern tun uns schwer damit? Vielleicht möchte es nur sagen:“Puh, das ist mir alles zu viel, ich komm gar nicht zur Ruhe! So viele Farben, Formen, Geräusche sind da jetzt um mich gewesen, mein Kopf ist ganz voll. Ich weiß nicht wohin mit all diesen Eindrücken.“

Wenn wir diese Schleife von vielen Reizen von außen, Beschäftigung mit dem Außen weiter und weiter führen, wohin führt das dann? Denn, es hört ja nicht mit den Angeboten auf, wenn Spielbögen- und Mobile-Zeit vorbei ist. Wenn die Kinder größer werden, kommen andere, scheinbar noch „tollere“, „wertvollere“ Spielsachen, von den vielen Medienangeboten ganz zu schweigen!

Ja, natürlich lernen auch die Kinder, die unter einem Spielbogen liegen, ihre Hände zu gebrauchen. Nur, die Qualität der Aufmerksamkeit, die Hingabe zu den feinen, inneren Impulsen, die Raum brauchen um wirken zu können, um sie umzusetzen, um zu erfahren „fühlt sich das jetzt stimmig an für mich? Passt das zu mir? Bin das ich? Will ich das?“ die werden überblendet von all den Reizen im Außen.

Ist es dieses zu frühe Ablenken von uns selbst, durch den gut gemeinten Förderungswillen der Eltern, welches uns immer mehr von unseren inneren Impulsen und dem tiefen Verständnis für uns selbst, für unsere Bedürfnisse wegführt?
Ist es ein Hinführen zu einer Manipulationsoffenheit „Schau hier, mach das, tu dies, nimm das, sage dies, glaube das…“ , die letztendlich nur unserer konsumorientierten Gesellschaft dient?

Führt uns, wenn wir diese Schleife der frühen Ablenkung durch äußere Reize weiter ziehen, zu den permanent Handy-wischenden, jederzeit ab- und anrufbereiten Erwachsenen, die unruhig werden, kaum dass sie einen Tag ohne Medien, ohne Termine verbringen müssen?

Sind das dann die Erwachsenen, die keinen guten Bezug zu sich selbst, zu ihrem Körper, zu ihren Bedürfnissen haben? Und diesen Zugang durch Therapien,  Meditation oder Selbsterfahrungsseminare mühsam lernen müssen?

Wer zu viel im Außen denkt, verliert die Bodenhaftung.

Haben wir als Eltern Sorge, dass unsere Kinder den Anschluss verpassen, wenn wir ihnen nicht alles bieten, was als scheinbar wichtige Lernerfahrung heutzutage geboten wird? Spielbögen, elektrische Babywippen, Babyschwimmen, Musikalische Früherziehung, Eltern-Kind-Turnen, Kinder-TV, Lern-Apps,…

Vertrauen wir wirklich den inneren Prozessen des Kindes, die sich von sich aus zeigen. Die Potentiale, die sich entfalten, die Entwicklung des Menschen vom Ich zum Du zum Wir.
Es braucht Zeit, viel Zeit, um sich selbst zu entdecken.
Dabei hilft ein stabiles Umfeld, welches absolute Sicherheit und Geborgenheit bietet. Bezugspersonen, die die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und darauf achtsam und respektvoll reagieren. Und ja – ein paar ausgewählte Spielmaterialien, die das Kind entdecken kann. Wenige zu Beginn. Dann mehr und mehr. Aber es lässt sich viel Geld sparen, wenn wir auf Spielbögen und Co verzichten.  Wesentlich ist, dass das Kind mit sich selbst, seinen Bezugspersonen und  entsprechenden Materialien  in Beziehung treten kann. Dadurch bekommt es das Wichtigste für sein Leben mit: Beziehungsfähigkeit.

Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden.
Sich erfassen,
aber sich nicht ständig
mit sich selbst befassen.
Das ist unsere Übung.
Martin Buber

So schließt sich der Kreis.
Sich selbst entecken dürfen, langsam, mit genug Raum und Zeit, um auch im Kontakt mit dem Du sich wieder zu erkennen, um in Ruhe Eindrücke verarbeiten zu können. Um weiter und weiter die Welt und ihre physikalischen Gesetzmäßigkeiten kennen zu lernen. Und weiter und weiter, um mehr und mehr in Kontakt mit dem Du treten zu können. Und weiter und weiter, um das Wir zu erleben und in diesem wirken zu können. Und weiter und weiter…um hinaus in die Welt zu gehen und auf einem guten Fundament, mit sicherem Stand ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Was für eine spannende Reise!