Frustriert eure Kinder gesund

Mit der Aussage „Frustriert eure Kinder gesund“ wurde ich mehrmals bei den Seminaren von Rebeca und Mauricio Wild konfrontiert. Zuerst war ich schockiert! Wie kann so etwas bitte gesund sein? Die armen Kinder! Da reden die dauernd von respektvollem Umgang und dann äußern sie so etwas!!
Nach vielen Diskussionen, viel nachdenken und unendlich vielem beobachten der Kinder und Eltern  im Kindergarten, meiner eigenen Kinder und uns als Eltern, den Kindern und ihren Eltern in meinen SpielZeit-Gruppen kann ich diesen Satz unterstreichen. Warum?

Weil wir als Erwachsene es „gut meinen“ und die Kinder vor Schwierigkeiten schützen möchten und ihnen gerne Hindernisse aus dem Weg räumen. Und das führt dann dazu, dass die Kinder es gewohnt werden, dass sie bei kleinen Herausforderungen nur zu quengeln brauchen und schon steht ein Erwachsener da, der ihnen hilft. Helfen ist ja so sozial und wichtig und gut – kann aber auch zu einer Abhängigkeit, Unselbständigkeit und Unzufriedenheit führen.
Natürlich ist es für die Kinder manchmal frustrierend, wenn sie so gerne etwas schon können würden und es aber einfach nicht oder noch nicht geht. Sie möchten auch schon schaukeln können oder den Deckel einer Flasche öffnen können. Sie wollen vielleicht schon laufen und strecken die Hand nach uns aus. Und diese freudvollen Momente wollen wir dem Kind doch ermöglichen, oder? Also, helfen wir und schaukeln das Kind an, öffnen den Deckel der Flasche und gehen in gebückter Haltung mit dem Kind an den Händen herum. Manchmal scheint es auch die einfachste Lösung der Welt zu sein als Erwachsener die Sache für das Kind zu erledigen und seine Ruhe zu haben. Nur – die nächste „Aufgabe“ die das Kind sich aussucht und wieder nicht gleich so gelingt, wie sich das Kind dies vorstellt führt dann zu einer nächsten „Hilfsaktion“ eines Erwachsenen und so dreht sich das Rädchen immer weiter.
Andererseits ergibt sich durch das gut gemeinte Helfen eine Abhängigkeit und ein ständiges „gebraucht werden“. Auch beim nächsten Mal möchten die Kinder wieder, dass wir ihnen einen Drehverschluss öffnen, strecken wie selbstverständlich wieder die Hand nach uns aus, wenn sie laufen wollen, möchten wieder von uns auf der Schaukel angeschubst werden usw. Meine Erfahrungen zeigen mir, dass dies dazu führt, dass die Kinder immer unzufriedener werden und die nötige Reibung, die sie sonst bei der Auseinandersetzung mit einer Sache, einer Herausforderung auf ganz natürliche Art und Weise hätten,  sich auf das Zusammensein mit den Erwachsenen überträgt : wenig Lust zu kooperieren, viel Quängelei, wenig Lust auf ein Miteinander – dafür mehr „Machtkämpfe“ und gegeneinander.
Denn das Kind will sich spüren, seine Selbstwirksamkeit, seinen Willen, seine Fähigkeiten (und diese ausweiten und verfeinern). Dafür sind alltägliche Hindernisse und Herausforderungen eigentlich genau das Richtige! Und wenn die fehlen, dann sind die Eltern, die erwachsenen Begleiter eben Stellvertreter für die Hindernisse des Lebens.
Das Wort „Resilienz“ kennt ja heutzutage jeder. Es ist die Fähigkeit gemeint, mit widrigen Umständen im Leben zurecht zu kommen. Dafür braucht es die Reibung mit  den entwicklungsbedingten und von der Natur der Dinge vorgegebenen Grenzen.

„Wir alle kennen diese ursprünglichen Regungen der Kinder, die immer wieder darauf hinauslaufen, allein probieren zu wollen. Wir sollten nur noch mehr darum wissen, dass diese unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir ihm zu erhalten wünschen, und dass die Freude an der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten darauf beruht, dass es selbständig beobachten, forschen, probieren und überwinden durfte.“
Elfriede Hengstenberg

Mauricio bezeichnete dieses Helfer-Syndrom von uns Erwachsenen oft auch als die eigentliche Erbsünde der Menschheit. Das klingt drastisch. Bei genauerem nachdenken ist es für mich aber stimmig: „ich weiß, was gut für dich ist, ich weiß, was du möchtest und ich kann dir dabei helfen, all deine Bedürfnisse zu erfüllen. Denn dein Glücklichsein ist oberstes Gebot!“ Dass diese Haltung der gut gemeinten Hilfe aber zu sehr viel Abhängigkeit führt und zudem die Gefahr besteht, dass wir die Bedürfnisse unseres Gegenübers fehlinterpretieren und dadurch mehr manipulieren als dass wir die echten authentischen Bedürfnisse unseres Gegenübers erkennen ist auch klar. Für unsere Kinder wollen wir auf keinen Fall, dass sie sich als Erwachsene von irgendjemandem manipulieren lassen und abhängig sind von allerlei Hilfestellungen von außen. Es ist den meisten Eltern überaus wichtig, dass ihre Kinder mit beiden Beinen im Leben stehen und in ihrem denken und handeln eigenständig sind.

Und für diese gesunde und ausgewogene Reifwerdung, Menschwerdung braucht es vielerlei Erfahrungen mit natürlichen Widerständen. Es braucht den Raum zwischen Reiz und Reaktion – also zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Und nicht immer die sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses womöglich ohne jegliche Herausforderung. Wir brauchen dieses abwägen der Schwierigkeiten, der Folgen, das Spüren unserer eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten aber auch unserer Grenzen.
Wenn das Kind erkennt, dass es noch nicht selbständig schaukeln kann, wird es versuchen, sich dies anzueignen. Dann wenn es dazu bereit ist, wenn die innere Motivation groß genug ist. Und es wird ihm gelingen auch ohne Ratschläge wie „du musst nach vor und nach hinten schwingen“. Es wird mit Versuch und Irrtum den Weg finden und spüren, welche Bewegungen des eigenen Körpers zum Erfolg führen. Und dieser Erfolg ist sein ganz eigener! „Ich hab das geschafft! Ich kann das! Ich ganz alleine!“ Was für ein schönes Gefühl das ist wisst ihr bestimmt – und dieses wunderschöne Gefühl, es alleine geschafft zu haben wollen wir unseren Kindern auf jeden Fall lassen! Auch wenn der Weg manchmal steinig ist und sie frustriert sind, sich ärgern und aufgeben wollen, sie schaffen das. Dieses Vertrauen dürfen wir in unsere Kinder und in das Leben haben. Dann halten wir den Frust aus. Und die Kinder halten ihn auch aus, wenn wir sie dabei begleiten und bestätigen, dass das bestimmt nicht immer einfach ist, aber dass sie es irgendwann bestimmt schaffen!  Und wir selbst müssen dann nicht immer bei allen Kleinigkeiten helfen sondern können uns um unsere eigenen Bedürfnisse kümmern und dabei erleben,  wie wir selbst umgehen mit dem Raum zwischen Reiz und Reaktion.